Wie Jesus den Baum als Sinnbild benutzt
Wir Menschen fühlen uns Bäumen nah, fast verwandt. Wuchs und Gestalt der Bäume, ihre Wurzeln, Stamm und Baumkrone lassen sich mit dem menschlichen Leben vergleichen: Wo kommen wir her, was sind unsere Wurzeln, was gibt uns Halt? Was sind unsere Sehnsüchte, nach denen wir uns ausstrecken? Was werden die Früchte unseres Lebens sein?
Die Kraft und Symbolik der Bäume spielen in allen Religionen und Kulturen eine Rolle, auch in der jüdischen Tradition und im Ersten Testament. Jesus hat diese Symbolik gekannt und verwendet. Im Lauf der Evangelien begegnen wir einigen mediterranen Fruchtbäumen, die Frieden, Gerechtigkeit und Segen – das gelingende Leben, seine Kraft und Größe symbolisieren. Und wenn die Fruchtbäume keine Früchte tragen, werden sie transparent für die Möglichkeit, dass das Leben und unsere Visionen scheitern können (Matthäus 7,17-20; 12,33 und Lukas 6,43-45).
Bäume in der Lebenswelt der Menschen
Bäume in der Levante sind Lebensspender: Sie schützen vor der heißen Sonne, zeigen Wasser-vorkommen an, spenden Nahrung und beeindrucken durch ihre majestätische Erscheinung und ihren hohen Wuchs. In Lukas 19,4 klettert Zachäus in Jericho auf einen Maulbeerfeigen-baum, um Jesus besser sehen zu können. In biblischen Zeiten waren die großen und ausladenden Bäume beliebte Schattenspender in Städten und auf Dorfplätzen.
Am Anfang des Johannesevangeliums sieht Jesus Natanaël unter einem Feigenbaum lagern (Johannes 1,43-51). Unter dem eigenen Feigenbaum zu sitzen ist in der Bibel ein Bild für Frieden und Wohlergehen, den Schalom Gottes (Micha 4,4). Natanaël erkennt, dass Gottes Schalom mit Jesus aus Nazaret kommt: Er spricht ihn als Meister/Rabbi, Sohn Gottes und König Israels an. Wie ein König wird Jesus auch in Jerusalem begrüßt: Die Menschen schwenken Blätter von Dattelpalmen, als Jesus wie ein Friedenskönig in Jerusalem einzieht (Johannes 12,12-15; Sacharja 9,9). In einem Garten mit Ölbäumen wird er vor der Stadt Jerusalem seine letzte Nacht in Freiheit verbringen.
Bäume als Symbol für das Reich Gottes
Im Senfkorngleichnis spielt Jesus das antik-altorientalische Bildmotiv vom Weltenbaum ein, um die Königsherrschaft Gottes bildhaft vorzustellen. Dieses Motiv symbolisiert im Bild des größten aller Bäume (z. B. einer Zeder), in dessen Zweigen die Vögel des Himmels wohnen und in dessen Schatten Tiere einen Ruheplatz finden können, die imperiale Größe einer Weltmacht, in deren Herrschaftsgebiet die unterworfenen Völker „beschützt“ leben. In der Bibel werden Ägypten, Assur und Babylon als solche Königreiche mit Weltherrschaftsambitionen und als Weltenbaum vorgestellt (Daniel 4,1-24 und Ezechiel 17,22-24; 31) und die Hoffnung beschrieben, dass der Gott Israels solche Großmachtsträume zu Fall bringen wird. Mit dem Gleichnis vom Senfkorn erzählt Jesus in dieser Tradition überraschend und subversiv weiter: Die Gottesherrschaft wird wie ein Weltenbaum dargestellt – jedoch mit einer Senf-staude. Das Reich Gottes zielt nicht auf Unterwerfung und hierarchische Macht, sondern bringt Lebensmöglichkeiten für alle. Die älteste Fassung des Gleichnisses in Markus 4,30-32 spricht darum auch nicht von einem Baum, sondern nur davon, dass die Senfstaude größer wird als alle anderen Gewächse. Wer im Frühjahr durch Galiläa wandert, kann das Gleichnis mit eigenen Augen sehen und verstehen: Die bis zu 2 m hoch wachsenden Stauden bilden riesige Flächen, färben die Landschaft um den See Gennesaret gelb ein, so weit das Auge reicht. Der Senf wird also nicht groß in der Höhe, sondern in der Horizontalen, breitet sich aus, wie das Reich Gottes sich ausbreitet – unter uns. Die Senfpflanzen geben Tieren und anderen Pflanzen Schutz und Schatten, Pflanzen wachsen und Bodenbrüter nisten in diesen Flächen. Das in Lukas 13,18-19 und Matthäus 13,3132 vorkommende griechische Wort dendron kann übrigens mit „Baum“ und mit „hoch aufwachsender Pflanze“ übersetzt werden
Der Feigenbaum und das Reich Gottes
Ein weiterer Baum spielt in Jesu Reich-Gottes-Rede eine Rolle: der Feigenbaum. Er ist die erste namentlich erwähnte Pflanze der Bibel im Baumgarten Eden (Genesis 2; 3,7) und gehört zu den sieben Pflanzen des Landes, die Gottes Segensfülle symbolisieren (Deuteronomium 8,7f). Im Gleichnis Matthäus 24,32-33/Lukas 21,28-30 ist der Feigenbaum Bild für das Kommen Gottes und seines Menschensohnes am Ende der Zeiten: Weil die Feige früher im Jahr als andere Bäume ihre Früchte zeigt, wird sie zum Bild, wie nahe das Reich Gottes ist. Der Schalom, der unter der römischen Besatzung sehnsüchtig erwartet wurde, steht vor der Tür: Es ist Zeit, den Kopf zu heben. Die Befreiung ist nahe (Lukas 21,28) – der Feigenbaum trägt ja schon Frucht!
Der Feigenbaum wird auch durchsichtig auf die Möglichkeit, das Reich Gottes zu verfehlen: Am Tag nach der Tempelreinigung findet Jesus einen Baum ohne Früchte, nur mit Blättern (Matthäus 21,18-22). Das ist ungewöhnlich, denn Feigenbäume tragen dauerhaft Früchte, eine Ernte von 80–100 Kilogramm im Jahr ist nicht ungewöhnlich. Auf das Wort Jesu hin verdorrt der Feigenbaum schließlich. Er steht bild-haft für den Tempelbetrieb in Jerusalem, der nicht die Frucht hervorbringt, die er bringen sollte: Haus des Gebetes zu sein (vgl. auch Markus 11,12-22). Im Lukasevangelium (Lukas 13,7-9) gibt es noch etwas Aufschub: Der Wein-gärtner will den Baum intensiv pflegen. Viel-leicht bringt er in Zukunft ja doch noch Früchte?
Menschen wie Bäume
Ein kleiner Baumtext zum Schluss: Bei der Heilung des Blinden in Betsaida (Markus 8,22-26) sieht der Blinde zunächst unscharf und sagt zu Jesus: „Ich sehe Menschen; denn ich sehe etwas, das wie Bäume aussieht und umhergeht.“ Dieser Text könnte uns inspirieren, die Baum-Texte in diesem Beitrag noch mal zu lesen und zu überlegen: Was klingt in mir an? Welche Resonanz auf die Texte gibt es in mir?
Baum-Texte im Neuen Testament
Bettina Eltrop ist wissenschaftliche Referentin im Katholischen Bibelwerk e.V.