Siehe, deine Mutter!
„Bei dem Kreuz Jesu standen seine Mutter und die Schwester seiner Mutter, Maria, die Frau des Klopas, und Maria von Magdala. Als Jesus die Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er liebte, sagte er zur Mutter: Frau, siehe, dein Sohn! Dann sagte er zu dem Jünger: Siehe, deine Mutter! Und von jener Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.“
Vielleicht sind Sie wie viele andere am 1. Mai bei dem diesjährigen strahlenden Sonnenschein hinausgegangen oder -geradelt und haben die Natur genossen, allein oder in einer illustren Gruppe. In unseren Breiten steht der Mai als Frühlingsmonat für aufblühendes Leben in Fülle.
Als Tag der Arbeit ist der Maifeiertag international. In der katholischen Welt gilt der Mai seit alters her als Marienmonat. Das mag Zufall sein, aber es passt gut zusammen: Bildnisse der Mutter Gottes als Frau aus dem (arbeitenden) Volk finden sich in allen katholischen Ländern, gerade in den ärmsten Hütten der Welt. Maria gilt vielen als Hoffnungsträgerin in aussichtslosen Lagen. „Bei dem Kreuz Jesu stand seine Mutter“ (Joh 19,25). Als Mutter Gottes wird Maria oft immer noch klischeehaft als demütige, sanftmütige „Magd des Herrn“ (Lk 1,38) gedacht, die alles hinnimmt. In der Bibel begegnet sie uns wesentlich differenzierter.
Maria erscheint im Neuen Testament nur an relativ wenigen Stellen, dort aber durchaus vielschichtig.
Der Evangelist Lukas schreibt mit dem Magnificat, dem Lobpreis des Herrn durch Maria (Lk 1,46-55), geradezu jedem frommen Christen eine sozialkritische Einstellung ins Stammbuch: Gott „stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen“ (Lk 1,52f.).
Bei der Hochzeit zu Kana (Joh 2,1-11) glaubt Maria an die Kraft ihres Sohnes. Sie scheut sich nicht, seine Vollmacht in Anspruch zu nehmen und ihn um Hilfe zu bitten. Und das nicht, weil es um Leben und Tod ginge, sondern damit alle Freude haben bzw. ausgelassen feiern können: „Als der Wein ausging, sagte die Mutter Jesu zu ihm: Sie haben keinen Wein mehr. Jesus erwiderte ihr: Was willst du von mir, Frau? Meine Stunde ist noch nicht gekommen. Seine Mutter sagte zu den Dienern: Was er euch sagt, das tut!“ (Joh 2,3-5) Der Wonnemonat Mai als Marienmonat macht aus dieser Perspektive Sinn, ohne die Passion Jesu und das Leiden seiner Mutter daran zu konterkarieren.
Warum schauen wir als Christen auf Maria? Jesus hat wie andere Kinder von seinen Eltern gelernt. Wenn er vom Kreuz her seine Mutter, die in seiner Todesnot bei ihm ausharrt, seinem Lieblingsjünger anvertraut („Siehe, deine Mutter!“, Joh 19,27), können wir als gläubige Christen dies als Einladung verstehen, Maria zum Vorbild zu nehmen. Mit ihrem „Fiat“ (Lk 1,38) hat sie am Anfang Hingabe und Gottvertrauen ausgedrückt und so erst das irdische Leben Jesu ermöglicht. Mit einer sozialkritischen Einstellung (Lk 1,52f.) stellt sie sich zugleich einem Leben in Fülle (Hochzeit zu Kana), das ihrer innigen Beziehung zu Gott entspringt.
Liebe Leserinnen und Leser, wenn Ihnen das nächste Mal in einer Kirche oder bei einem Gang durch die Natur Mariendarstellungen begegnen, nehmen Sie dies als Chance, die Mutter Gottes mit dem differenzierten Blick der biblischen Maria anzuschauen und dabei zu einer Vertiefung Ihrer eigenen Jesusnachfolge zu gelangen.
Barbara Heitfeld