Bibelwort des Monats - Februar 2024

Mt 6,1-18

Das Vaterunser ist ein Gebet, das vielfältige Assoziationen bei mir auslöst: von Kindheit an vertraut, tief im Gedächtnis, formelhaft gemurmelt, in traurigen und schönen Situationen gesprochen, in hunderte Sprachen übersetzt, als das Gebet der Christen auch vielen nichtreligiösen Menschen bekannt.

Wie eine kostbare Perle ist das Vaterunser der sorgsam umschalte Kern der Bergpredigt (die dem Stiftungsgründer Jürgen Frielinghaus ein besonderes Anliegen war). Das Vaterunser bildet das Zentrum des Abschnitts Matthäus 6,1-18, und dieser wiederum ist die Mitte der drei großen Hauptteile der Bergpredigt.

In der Forschung wird meist angenommen, dass das Vaterunser auf den historischen Jesus zurückgeht und ursprünglich in der aramäischen Sprache – also in der Sprache des Volkes und nicht der Liturgie und Theologie – formuliert war. Dieses Gebet atmet den Geist, in dem Jesus lebte. Darin brachte er seine Verkündigung zum Ausdruck. Und diese war natürlich durch seinen jüdischen Glauben geprägt.

Das Vaterunser beginnt mit drei „Du“-Bitten (Mt 6,9-10), die sich direkt an Gott richten. Sie zielen darauf, dass Gott seine Heiligkeit, seine Herrschaft und die Verwirklichung seines Willens heraufführen möge. Dies schließt jedoch seitens der Menschen deren Mitwirkung mit ein. Es folgen drei „Wir“-Bitten (Mt 6,11-13), welche die existentiellen Nöte der Menschen betreffen. Das Vaterunser ist somit von zwei Themen geprägt, die die Bergpredigt insgesamt auszeichnen: die Verbindung von Gottesliebe (Beziehung zu Gott) und Nächstenliebe (Zusammenleben in der Gemeinschaft).

Jesus lehrt keinen neuen, ungewohnten Weg des Betens. Das Vaterunser ist fest in der alttestamentlichen Gedankenwelt verwurzelt und zeigt Parallelen zu jüdischen Gebetsüberlieferungen. Ein Vorläufer des Vaterunsers ist das wortgewaltige und leidenschaftliche „Du bist doch unser Vater“-Gebet in Jesaja 63,15-64,11. Darin kommen ähnliche Leitmotive vor: die Vater-Anrede, der Ort Gottes im Himmel, die Heiligung und der Name Gottes, die Bitten um den Anbruch der Gottesherrschaft, um Sündenvergebung, Erlösung und Rettung aus der bedrängenden Situation. Inhaltliche Parallelen teilt das Vaterunser außerdem mit dem Achtzehnbittengebet und dem (aramäisch-sprachigen) Kaddischgebet. Das Achtzehnbittengebet hat seinen Namen von den 18 Lobpreisungen Gottes, aus denen es sich zusammensetzt, und war vermutlich schon zur Zeit Jesu das zentrale Gebet im Judentum. Das Kaddisch ist nach dem aramäischen Wort für „heilig“ benannt, denn es beginnt mit der Bitte um die Heiligung des göttlichen Namens. Es hat seinen Platz im Synagogengottesdienst und wird überdies von Angehörigen eines Verstorbenen gesprochen. Wegen dieser Verwendung durch Trauernde verbinden sich mit diesem Gebet selbst in nichtreligiösen Kreisen bis heute tiefverwurzelte Gefühle. Ein Aspekt, den das Kaddisch vielleicht mit dem Vaterunser teilt?

Von dem jüdischen Professor Jacob J. Petuchowski (1925-1991) wird berichtet, er habe sich in seinem Rabbinerseminar in Cincinnati gern folgende Aufgabe erlaubt: Beim Behandeln der zentralen jüdischen Gebete habe er seinen Studierenden eine hebräische Version des Vaterunsers vorgelegt mit der Frage „Betet ihr das in der Synagoge?“ Fast immer stimmten alle einmütig zu. Eine kleine Geschichte, die zeigt, wie sehr das Vaterunser in jüdischen Gebetsmotiven verwurzelt ist und einen Brückenschlag zum heutigen Judentum darstellt.

Bettina Wellmann