Fürchtet euch nicht!
„28 Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, die Seele aber nicht töten können, sondern fürchtet euch eher vor dem, der Seele und Leib in der Hölle verderben kann! 29 Verkauft man nicht zwei Spatzen für einen Pfennig? Und doch fällt keiner von ihnen zur Erde ohne den Willen eures Vaters. 30 Bei euch aber sind sogar die Haare auf dem Kopf alle gezählt. 31 Fürchtet euch also nicht! Ihr seid mehr wert als viele Spatzen. 32 Jeder, der sich vor den Menschen zu mir bekennt, zu dem werde auch ich mich vor meinem Vater im Himmel bekennen. 33 Wer mich aber vor den Menschen verleugnet, den werde auch ich vor meinem Vater im Himmel verleugnen.“
Angesichts des Überfalls Russlands auf die Ukraine äußerte der Philosoph Peter McCormick vom Institut international de philosophie in Paris: „We are living in a tumbling world“ – Wir leben in einer taumelnden Welt. Er hat recht: Die Corona-Pandemie. Die Ukraine und andere Kriege in aller Welt. Hunger und Vertreibung als Folge. Der Klimawandel, der sich – fast schon täglich in den Nachrichten – als Klimakatastrophe erweist. Ein Bündel von Krisen, das Einzelne, Nationen, ja die ganze Welt taumeln macht.
Zu allem Überfluss steckt ausgerechnet in dieser Zeit auch die Kirche, die Gemeinde Jesu Christi, wegen der Missbrauchsskandale und des Beharrens auf kaum mehr akzeptierten Positionen in einer massiven Glaubwürdigkeitskrise.
Zweifellos: Wir leben in einer taumelnden Welt.
In genau diese Situation hinein spricht Jesus – provozierend optimistisch, Hoffnung stiftend, Mut machend – sein Wort in Mt 10,28-33: „Fürchtet euch nicht!“ (Verse 28a.31a)
Allen Krisen zum Trotz sollen wir uns nicht fürchten. Wie kann das gehen?
Jesus sagt: Kein physischer Tod kann uns schrecken. Einzig Den gilt es zu fürchten, „der Seele und Leib in der Hölle verderben kann“ (V. 28b) – gemeint ist Gott. Nun scheint es nicht sehr attraktiv, die multiplen Ängste einer taumelnden Welt dadurch zu bewältigen, dass man noch dazu das ewige Verderben von Leib und Seele in der Hölle fürchtet. Jesu Warnung entspricht hier der zeitbedingten Vorstellung von göttlicher Strafe, wie sie auch Johannes der Täufer predigte. Wichtig ist der zentrale Fokus der Aussage: Wenn wir Gott, den Herrn über Leben und Tod, fürchten, kann uns im Letzten nichts ängstigen. Die Gottesfurcht besiegt alle irdischen Sorgen. Und Gottes„furcht“ ist keineswegs primär Angst vor dem strafenden Richter, sondern kindliches Vertrauen auf den himmlischen Vater. Der hat selbst die kleinen, scheinbar wertlosen Spatzen im Blick und lässt nichts ohne seinen Willen mit ihnen geschehen; um wieviel mehr schaut er uns Menschen an, kennt uns bis aufs letzte Haar und liebt uns (Verse 29-31). Wir dürfen uns Ihm anvertrauen!
„Fürchtet euch nicht“ heißt für Jesus nicht nur (passiv) Freisein von Furcht, sondern führt zum aktiven Tun, zum Bekenntnis. Jesus beschenkt uns mit Furchtlosigkeit und Hoffnung, damit wir diese anderen zuteil werden lassen. Die eigene Erfahrung von Trost und Mut soll überfließen zur Weitergabe derselben an die Mitmenschen. „Fürchtet euch nicht“ ist daher nicht nur Zuspruch, sondern Auftrag. Inhalt des Bekenntnisses ist Jesus selbst (V. 32): Indem wir furchtlos von ihm Zeugnis geben, bekennen wir damit zugleich unseren Mut, verkörpert Jesus doch den Grund aller Hoffnung. So stecken wir andere mit dieser Kraft von Mut und Hoffnung an.
Der Soziologe Hartmut Rosa, als Nichttheologe ein unverdächtiger Zeuge, hat 2022 in einem bemerkenswerten Vortrag „Demokratie braucht Religion“ vehement auf die Bedeutung der Religion hingewiesen. Glaube und Kirche seien unersetzlich für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft.
Seit seinem Vortrag ist die Welt durch die Zuspitzung der genannten Krisen noch taumelnder geworden. Wie dringlich ist daher das mutige Bekenntnis der Jünger*innen Jesu – Anker der Hoffnung (Hebr 6,18f.) für viele, die am Straucheln sind!
Jesus ruft uns – wem sonst, wenn nicht uns? – zu: Fürchtet euch nicht! Bekennt eure Hoffnung! Macht in ihrem Licht die Welt trotz des Bösen und aller Katastrophen ein Stück lebenswerter.
Nie war der Mut zu furchtlosem Bekennen so unverzichtbar wie heute. Mehr denn je bedarf die aus den Fugen geratene Welt der Rückbindung (re-ligio) an ihren Schöpfer, den guten Vater im Himmel, der uns in Jesus Christus nahegekommen ist.
Gerhard Hotze