Bibelwort des Monats - November 2023

Lk 9,59-60

Lass die Toten ihre Toten begraben

„Zu einem anderen sagte er: Folge mir nach! Der erwiderte: Lass mich zuerst weggehen und meinen Vater begraben. Jesus sagte zu ihm: Lass die Toten ihre Toten begraben; du aber geh und verkünde das Reich Gottes.“

Draußen wird das Wetter unwirtlich. Der Herbst ist nicht mehr zu verkennen. Das Leben in der Natur geht im November sichtbar zurück. In diese Zeit fallen seit jeher Gedenktage für die Toten, oft verbunden mit Friedhofsbesuchen: Allerheiligen, Allerseelen, Buß- und Bettag, Volkstrauertag, Toten- bzw. Ewigkeitssonntag. Jesu Wort in Lk 9,60, das mit hoher Wahrscheinlichkeit auf den historischen Jesus zurückgeht, erscheint uns in dieser Zeit nahezu pietätlos: „Lass die Toten ihre Toten begraben!“

Sicherlich plädiert Jesus hier nicht dafür, Tote nicht beizusetzen. Wie so oft spitzt Jesus rhetorisch zu, um auf etwas Wesentliches hinzuweisen. Mit dieser Aussage sagt uns Jesus über die Jahrtausende hinweg: Für die Toten kannst du nichts mehr tun, aber für die Lebenden. Im Hier und Jetzt beginnt das Reich Gottes. Es beginnt mit dir. Verschiebe und verpasse es nicht! Das Evangelium, die Frohe Botschaft, ist keine Trauerbotschaft, sondern eine Botschaft vom und für das Leben, damit alle Menschen Leben in Fülle haben. Verkündige das!

Unsere Verstorbenen, ja alle Verstorbenen der Weltgeschichte, gerade die Abgeschlachteten, grausam Ermordeten, können wir nur noch Gott anvertrauen. Wenn wir ihrer gedenken, sie nicht verdrängen, tun wir das in erster Linie für uns selbst. Wir gedenken unserer Toten, für die wir die Hoffnung haben, dass sie bei Gott geborgen sind; sie brauchen unser Gedenken also nicht. Wir gedenken ihrer für uns, die Lebenden, da wir es in dieser Welt bitter nötig haben, zur Mahnung und zur Erkenntnis: Nie wieder! In diesem Sinne schließen wir zwar den Toten die Augen, im Grunde aber öffnen die Toten uns die Augen. Wir Menschen brauchen eine Erinnerungskultur, um eine menschenwürdige Gegenwart und Zukunft zu gestalten. Ohne unsere Verstorbenen, die Menschen, die vor uns waren, gäbe es uns nicht und wären wir keine Christen. Das ist Grund zur Dankbarkeit und auch Auftrag, denen, die nach uns kommen, den Glauben weiterzugeben.

Der biologische Tod ist und bleibt für uns eine Grenze, die wir nicht überschreiten können. Christen haben in Jesus aber eine Hoffnung, die über den Tod hinaus geht. Das letzte Wort Jesu bei Lukas zeigt seine Hingabe in der Sterbestunde in die Hände Gottes: „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist.“ (Lk 23,46) Jesus hatte eine Jenseitsperspektive für sich und für alle, selbst für den letzten Verbrecher: „Amen, ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein.“ (Lk 23,43)

Der Tod begrenzt das irdische Leben; wir haben nicht endlos Zeit. Der Tod mahnt uns zu handeln, die wesentlichen Entscheidungen nicht unendlich aufzuschieben. Unser Leben wird dringlich. Wir sind gerufen, entschieden zu leben und unsere Welt aktiv zu gestalten: „Du aber geh und verkünde das Reich Gottes!“

Das Reich Gottes ist für Jesus nicht primär eine jenseitige, sondern eine gegenwärtige Größe. Die Feuerbachsche Religionskritik der Jenseitsvertröstung trifft nicht auf den historischen Jesus zu. Aus der Verbundenheit mit seinem himmlischen Vater lebte er im Diesseits und ließ das Paradies bereits machtvoll gegenwärtig werden: „Wenn ich die Dämonen durch den Finger Gottes austreibe, dann ist das Reich Gottes schon zu euch gekommen“ (Lk 11,20).  Gott will nicht gläubige Tote (in Traditionen oder Vorurteilen erstarrte Kirchenschafe), sondern lebendige Gläubige, die im Heiligen Geist Kirche und Welt gestalten.

Das dürfen wir als Kirche des Herrn, jede Christin und jeder Christ, beherzigen. Mit dieser Ausrichtung wünsche ich uns einen besinnlichen und lebendigen November im Geist Jesu Christi.

Barbara Heitfeld