„33 Meine Kinder, ich bin nur noch kurze Zeit bei euch. Ihr werdet mich suchen, und was ich den Juden gesagt habe, sage ich jetzt auch euch: Wohin ich gehe, dorthin könnt ihr nicht gelangen. 34 Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben. 35 Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt.“
Liebt einander! Das ist das Gebot der Stunde. Zeitlos und undatiert – weil es immer gilt. Es richtet sich auch an diejenigen, die sich heute noch aufmachen, um den Fußspuren Jesu zu folgen und aus der Liebesbotschaft zu leben. Passender als im Hochzeitsmonat Mai könnte das Wort Liebe nicht treffen. Denn bei (kirchlichen) Trauungen wählen Brautpaare häufig einen Bibeltext aus, der den Begriff „Liebe“ enthält. Doch: Liebe ist nicht gleich Liebe. Das Neue Testament kennt im Grunde zwei unterschiedliche Begriffe für Liebe, die auf Gegenseitigkeit ausgerichtet ist: agape und philia. Während letztere die Zuneigung zwischen Menschen meint, die gleiche Ziele verfolgen, wird agape ausschließlich von Gott her gedacht und umfasst eine hingebungsvolle, diakonische und caritative Nächstenliebe, ja sogar die Liebe zu Feinden.
Liebe in diesem Sinne verlangt immer auch eine Tat und nicht selten ist es andersherum: eine Tat erweist sich als Liebestat wegen ihrer Motivation. In der Bibel insgesamt bleibt Liebe nicht bei Liebesgefühlen stehen, sondern verbindet die Achtung des Gegenübers, die Anerkennung und Wahrung der Freiheit mit der Zusage „Ich liebe dich“ und meint: „Ich will, dass es dir gut – und ich bin bereit, den Preis dafür zu zahlen“. Liebe ist demnach persönlich und auf ein Du ausgerichtet. In ihrer Wechselseitigkeit befähigt Liebe auch dazu, sich lieben zu lassen. Diese Seite der Liebe ist nicht weniger essentiell. Es braucht das Zulassen der Liebe – in aufrichtiger Zuneigung und ernsthafter Bereitschaft, Liebe nicht nur zu teilen und zu geben, sondern sie auch (an-)zunehmen.
Das Bibelwort des Monats, entnommen aus dem Evangelium des Fünften Sonntags in der Osterzeit, ist ein Zuruf Jesu Christi an seine Jünger, die ein Leben in seiner Nachfolge führen wollen. Dabei handelt es sich um einen Ausschnitt aus der ersten Abschiedsrede Jesu (13,31-14,3), die sich wie die Vorwegnahme der Passions- und Ostererzählung lesen lässt. „Liebt einander“ ist im Kontext des Evangeliums nicht nur eine Aufforderung oder gar ein Gesetz, es ist gleichzeitig auch Erkennungszeichen. Im gegenseitigen Liebesdienst, so wie ihn Jesus beispielhaft mit der Fußwaschung an seinen Jüngern erwiesen hat, so sollen auch sie einander dienen, damit an ihren Taten erkannt wird: Das sind Christen. Sie sind Liebende, weil sie von Jesus geliebt werden. Und weil sie Geliebte sind, können sie die empfangene Liebe mit-teilen. Daher sind sie auch Mitliebende in und durch Jesus Christus.
Wenn man sich einmal überlegt, dass diese Verse im Kontext der Gefangennahme Jesu durch römische Soldaten stehen, dann erhält die Liebe eine ganz besondere Kraft. Denn der Kuss des Judas, mit dem er Jesus an die Soldaten übergibt, ist der Beginn genau dieser zutiefst christlich geprägten Fähigkeit, die in Jesus Christus gründet: die (Selbst-)Übergabe bis zur (Selbst-)Hingabe in die Hände des Anderen. Das bedeutet: Liebe ist immer auch ein Risiko und Wagnis. Im Fall Jesu führt die Übergabe des Judas (im Griechischen wörtlich „übergeben“) zur Auslieferung – sogar bis in den Tod. Hier beginnt das große Aber der Christen, denn der Tod hat keine Macht mehr über sie. Es ist der Anfang, der Neubeginn in die bedingungslose Liebe Gottes, die sich durch, in und mit Jesus Christus in der Welt ereignet. Sie heißt: Auferstehung zum ewigen Leben. Wenn das nicht Liebe ist…
Miriam Pawlak