Bibelwort des Monats – April 2025

Schrei - Mk 15,33-39

33 Als die sechste Stunde kam, brach eine Finsternis über das ganze Land herein – bis zur neunten Stunde. 34 Und in der neunten Stunde schrie Jesus mit lauter Stimme: Eloï, Eloï, lema sabachtani?, das heißt übersetzt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? 35 Einige von denen, die dabeistanden und es hörten, sagten: Hört, er ruft nach Elija! 36 Einer lief hin, tauchte einen Schwamm in Essig, steckte ihn auf ein Rohr und gab Jesus zu trinken. Dabei sagte er: Lasst, wir wollen sehen, ob Elija kommt und ihn herabnimmt. 37 Jesus aber schrie mit lauter Stimme. Dann hauchte er den Geist aus. 38 Da riss der Vorhang im Tempel in zwei Teile von oben bis unten. 39 Als der Hauptmann, der Jesus gegenüberstand, ihn auf diese Weise sterben sah, sagte er: Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn.

Jesus war Jude. Er glaubte an den einen Gott Israels und kam aus einem Gebiet, das Galiläa hieß; es ist Teil dessen, was wir heute Israel nennen. Dieses Gebiet war nicht immer jüdisch gewesen. Das Judentum breitete sich aus dem südlich gelegenen Judäa, dem Gebiet, in dem auch Jerusalem verortet ist, nach Norden hin aus. Jesus kannte die Tora, den Teil der Bibel, den wir heute im Alten Testament mit den Büchern Genesis, Exodus, Levitikus, Numeri und Deuteronomium wiederfinden; es ist der Teil der Bibel, den sich das Christentum mit dem Judentum teilt. Jesu Glaubensleben skizzieren die Evangelisten: Jesus betet, er fastet, er liest in der Bibel und legt sie aus, er besucht den Tempel, lernt und lebt die Bräuche, kümmert sich um Ausgeschlossene, Kranke und Alte. Er bringt aber bestimmte Fokussierungen mit, die einige vielleicht als Revoluzzertum missverstehen. Seine zentrale Botschaft: Das Himmelreich ist nahe; es ist geboten, das Leben neu auszurichten auf diese Nähe und den Blick dafür zu schärfen. Er nennt dies Umkehr. Diese Umkehr ist wesentlich, damit der Weg nicht weiter weg von Gott geschieht, sondern wieder auf ihn hin. Dass Gott aber ganz nah ist, davon ist Jesus absolut überzeugt. Und er spürt es selbst. Es ist eine Kraft, die Jesus durchströmt – und nicht nur das, sie strömt auch aus ihm heraus auf andere über. Sie ist so stark, dass Jesus in der Lage ist, Tote wieder zum Leben zu erwecken.

Die Evangelien zeigen im Zeitraffer, wie Jesu Leben in den letzten drei oder vier Jahren seines Lebens völlig von Gott und der Botschaft von dessen Nähe auf Erden durchwirkt ist und sein ganzes Leben und Handeln prägt.

Und dennoch (ver-)zweifelt Jesus in der Stunde seines Todes an Gottes Nähe.

Jesu Schrei ist eine Klage, die schon die alttestamentlichen Psalmen vorgeben: Psalm 22, Vers 2 kennt diesen Ausruf, der die absolute Gottverlassenheit ausdrückt im Angesicht des drohenden Todes und der Verfolgung. Jesus wird durch diesen Schrei in seiner ganzen Menschlichkeit, in seinem ganzen Menschsein porträtiert: als malträtierter, am Kreuz hängender Mann, dessen Leidenserfahrung zum Gefühl der absoluten Gottesferne führt.

Einsamkeit, Verloren- und Verlassensein ist das, was Jesus fühlt und in seiner Muttersprache, in Aramäisch, als Klageschrei ausruft: „Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ Es ist das letzte Gefühl, das von Jesus übermittelt wird. Und es sind die letzten Worte, die das Evangelium von Jesus kennt – vorerst.

Dieses Verlassenheitsgefühl des Mannes, der eigentlich Glaubensvorbild sein soll, erschüttert. Der Schrei geht ins Mark. Es hallt lange nach in eine Welt, die selbst malträtiert wird und voller Malträtierungen ist.

Jesus fehlt kurz vor seinem leidvollen Tod Gottes Nähe. Gott ist nicht da. Jesus fragt: Warum hast Du mich verlassen? Das ist eine Frage, die nur ein glaubender Mensch stellen kann. Denn Jesus hatte die Nähe Gottes gespürt. Nun also nicht mehr.

Heute klingt dieser Schrei absurd. Es klingt in den Ohren vieler, die sich verlassen fühlen, einsam sind und keine Kraft haben selbst zu schreien, aber gar nicht wüssten, wozu das gut sein sollte, weil sie nicht daran glauben, dass da jemand ist, der diesen Schrei hört. Es wäre töricht, zu schreien, weil es ja niemanden beträfe.

Viele haben das Gefühl der Nähe Gottes noch nie gespürt; sie haben nie daran geglaubt, dass Gott nah sein kann, haben sich nicht im Gebet geborgen gefühlt oder durch Fasten den Fokus auf Wesentliches erlangt.

Dieser Schrei hallt aber auch in eine Welt, die voll ist von lauten Schreihälsen, die durch ihr Geschrei Macht und Kontrolle behalten wollen; die keine Nähe zum anderen zulassen, weil sie Angst um sich selbst haben. Menschen, die mit ihrem Geschrei anderen verbalen Gewalt antun: gegenüber Kindern, Partnern, Kollegen oder Menschen in ihrer Umgebung.

Dieser Schrei eines Mannes, der sein Leben für andere hingegeben hat (Mk 10,45), ist kaum hörbar für diejenigen, die suchen, aber nicht finden. Sie hören nicht, welche zutiefst menschliche Sehnsucht selbst Jesus mit letzter Kraft ausruft: die Sehnsucht danach, gerettet zu werden; hinaus getragen in ein anderes, besseres Leben, ohne Leid und ohne Tod.

Dieser Schrei ist Ausdruck eines starken personalen Glaubens. Der Schrei hat einen Adressaten: „Mein Gott“. Der personale Gott Jesu ist aber nicht exklusiv zu verstehen. Er markiert vielmehr die Nähe, die Jesus spüren will, so wie die aramäische Sprache, die Jesu Muttersprache ist. Die Vertrautheit, die darüber vermittelt wird, steht in Spannung zum Verlassenheitsgefühl. Aber es ist ein Ausdruck des Glaubens, der selbst in der schwierigsten Situation des Lebens Halt gibt, und wenn es eine Klage ist, die sich an diesen Gott richtet. Der Glaube Jesu trägt ihn, auch in der dunkelsten Stunde seines Lebens. Die Fähigkeit, diesen Gott anzurufen, auch wenn es eine Frage ist, hilft Jesus, auch wenn es das Letzte ist, was er sagen wird.

Als Jude kennt Jesus die Psalmen, ob nun der Evangelist ihm diese Worte in den Mund legt oder die Worte des Psalms von Jesus wirklich auf Golgota ausgerufen wurden; wir wissen es nicht. Aber Jesu großer Glaube ist gespeist durch die Tradition der Psalmen.

Sein Tod markiert eine Wende in der Geschichte. Die ganze Schöpfung reagiert darauf, weil die Erde zu beben beginnt. Es ist ein Soldat, der ein Glaubensbekenntnis spricht und die Gottessohnschaft manifestiert, d. h. die unmittelbare Nähe Jesu zu Gott. Der Hauptmann kann dies aber nur in der Rückblende tun: „er war der Sohn Gottes“.

Und nun?

Das Beben ist eine Antwort des Kosmos auf das, was geschehen ist. Der Tod hat gewonnen, vorerst – aber nur für drei Tage.

Denn Jesu Schrei ist nach der biblischen Überlieferung nicht das Aller-Letzte von Jesus. Nach Kapitel 16 des Markusevangeliums ermutigt er die Menschen zum Glauben: „Geht hinaus in die ganze Welt und verkündet das Evangelium der ganzen Schöpfung! 16 Wer glaubt und sich taufen lässt, wird gerettet (Mk 16, 15f.)“.

Es ist der Jesus, der auferstanden ist, als neuer Mensch zu seinen Freunden spricht und so auch zum Gegenstand des Glaubens wird. In einer anderen Gestalt, aber mit klarer Zusage und  einem Auftrag will er ermutigen und nicht abschrecken. Er wird wiedergefunden werden in Galiläa – dort, wo er hergekommen ist. So formuliert es der Text. Die Jünger würden ihn dort finden, heißt es.

Also wieder zurück, damit es nach vorn gehen kann. Dieses Zurück ist das, wo sich die Jünger auskennen, ihre Heimat, wo sie sich sicher fühlen können. Aber sie sollen dabei nicht vergessen, was geschehen ist und die frohe Botschaft mitnehmen.

Der Theologe Michel de Certeau formuliert sein Verständnis der biblischen Texte so: „In der Tat ist der Ruf [Jesu] … ja nur in der Antwort bekannt, die auf ihn gegeben wird. Er hat keinen eigenen Ausdruck. Jesus ist uns nur zugänglich durch Texte, die, indem sie von ihm sprechen, erzählen, was er wachgerufen hat, und also lediglich ihren eigenen Status als gläubige oder rückwärtsgewandte Schriften beschreiben“ (Michel de Certeau, GlaubensSchwachheit, 264.230).

Die Zukunft der Jünger ist offen, aber sie ist geprägt durch die Annahme von Leid und Tod, die durch den Glauben an Gott und Christus überwunden werden. Der Tod ist nicht das Letzte. Der Todesschrei ist nicht das Letzte. Aber ohne ihn ist diese Zukunft nicht zu haben. Der Weg in die Zukunft gelingt nur, wenn sie den Tod und das Leid einschließt und nicht ausklammert.

Der Glaube Jesu zeigt, dass er auch in den schwersten Stunden Ausdruck finden kann. Als Schrei der Verlassenheit.

Aleksandra Brand